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03.05.2024, 09:05 Uhr

Gewerkschaften

KI kann Keime bekämpfen ‒ und Gewerkschaften

  • 18.06.2023
  • Aktuelles

Künstliche Intelligenz hat kürzlich ein Antibiotikum entdeckt, mit dem schwere Lungeninfektionen bekämpft werden können. Mit der gleichen Technologie lassen sich allerdings auch Betriebsräte und Gewerkschaften bekämpfen, schreibt Yanis Varoufakis.

IG Metall: Ungebrochen solidarisch.

In der vergangenen Woche wurde eine der wenigen guten Nachrichten gemeldet: Dank künstlicher Intelligenz gelang es Forschenden, ein Antibiotikum zu entwickeln, das einen außergewöhnlichen Superkeim abtötet, der allen bisherigen antimikrobiellen Medikamenten widerstanden hatte. Ein KI-gesteuerter Algorithmus analysierte Tausende von chemischen Verbindungen in Schlüsselproteinen von Acinetobacter baumannii, einem Bakterium, das Lungenentzündung und so schwere Wundinfektionen verursacht, dass es von der Weltgesundheitsorganisation als eine der drei „kritischen Bedrohungen“ für die Menschheit eingestuft wurde. Sobald die Analyse abgeschlossen war, erfand die KI einen Wirkstoff mit neuartigen Eigenschaften im Vergleich zu vorhandenen Antibiotika. Ohne die Hilfe der KI würde das lebensrettende Antibiotikum ein Wunschtraum bleiben. Es ist ein Triumph der Wissenschaft für die Geschichtsbücher.

Doch es gibt eine hässliche Kehrseite. Erinnern Sie sich an Chris Smalls, den Arbeiter im Amazon-Logistikzentrum, der eine Arbeitsniederlegung im Werk des Unternehmens in Staten Island, New York, organisierte, um gegen die Arbeitsbedingungen während der Pandemie zu protestieren? Smalls erlangte kurzzeitig Berühmtheit, als bekannt wurde, dass die reichen und mächtigen Direktoren von Amazon nach seiner Entlassung in einer langen Telefonkonferenz planten, sein Anliegen durch Rufmord zu untergraben. Dennoch gelang es Smalls einige Jahre später, die erste (und bis heute einzige) offiziell anerkannte Gewerkschaft von Amazon-Mitarbeitern in den Vereinigten Staaten zu gründen. Heute werden solche Erfolge durch die gleiche KI-Technologie gefährdet, die das keimtötende Antibiotikum hervorgebracht hat.

Smalls‘ Gewerkschaft war ein herber Rückschlag für Amazon-Manager, die jahrelang darin geschult worden waren, die Beschäftigten mit allen Mitteln daran zu hindern sich gewerkschaftlich zu organisieren. In einem 2018 durchgesickerten Schulungsvideo wurden Manager dazu angehalten, auf Warnzeichen für Organisierungsaktivitäten zu achten. Ihnen wurde nahegelegt, Überwachungskameras außerhalb der Amazon-Lagerhäuser zu nutzen, um Mitarbeiter zu entdecken, die nach ihrer Schicht noch verweilen und möglicherweise versuchen, Kollegen zu einem Gewerkschaftsbeitritt zu überreden. Sie wurden auch ermutigt, Gespräche der Mitarbeiter zu belauschen und auf Äußerungen wie „Existenzminimum“ oder „ich fühle mich ausgelaugt“ zu achten.

Bald darauf wurden die primitiven Überwachungsmethoden der Bosse durch eine Software ersetzt oder zumindest unterstützt. Im Jahr 2020 berichtete Recode, dass Amazon die geoSPatial Operating Console (SPOC) gekauft hatte, um Arbeitnehmer zu überwachen, die zu gewerkschaftlichen Organisierungsbemühungen tendieren. Und Vice deckte auf, wie Amazons Personalabteilung die Listserv- und Facebook-Gruppen von Mitarbeitern überwachte, um „Dienst nach Vorschrift“, Streiks und andere kollektive Maßnahmen vorherzusagen.

Die Software kategorisierte die Eigenschaften und Verhaltensweisen der Mitarbeiter danach, ob sie mit gewerkschaftsfreundlichen Tendenzen korrelierten. Doch die Vorhersagefähigkeit der Software enttäuschte Amazon, so dass sich das Unternehmen weiterhin auf Regionalmanager verließ, die die Arbeitnehmer auf die altmodische Weise im Auge behielten.

All das ist nun durch KI in den Schatten gestellt worden. Warum sollte man ein Auge oder ein Ohr auf die Mitarbeiter haben oder Software kaufen, um ihre Posts und Facebook-Seiten zu lesen, wenn eine zentralisierte KI gewerkschaftsfreundliche Formulierungen und Verhaltensweisen in jedem Amazon-Warenlager automatisch in Echtzeit und zum Nulltarif erkennen kann?

Die KI, die zur systematischen Bekämpfung und Unterdrückung von Arbeitnehmervertretungen eingesetzt werden kann, beruht irritierenderweise auf genau denselben wissenschaftlichen Durchbrüchen, die auch die KI zur Bekämpfung multiresistenter Keime hervorgebracht haben. Vor der KI kategorisierten Forscher Moleküle als Vektoren, die entweder bestimmte Gruppen von Chemikalien enthielten oder nicht enthielten. Das war nicht anders und nicht effizienter als Amazons SPOC-Software, die Mitarbeiter auf der Grundlage ihrer wahrgenommenen Versuchung kategorisiert, eine Gewerkschaft zu gründen.

KI-Keimbekämpfungsprogramme hingegen stützen sich auf neuronale Netze und Modelle des maschinellen Lernens, die in der Lage sind, chemische Räume zu erforschen, für deren Untersuchung menschliche Forschende Jahrzehnte benötigen würden. Sie werden anschließend darauf trainiert, die molekulare Struktur der Proteine eines Keims zu analysieren und Verbindungen zu identifizieren, die ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit abtöten.

Die KI-Programme zur Bekämpfung von Gewerkschaften beruhen auf demselben Prozess. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die KI anstelle von chemischen Räumen und Molekülen Betriebsstätten erkundet und sich auf Beschäftigte konzentriert, deren Echtzeitdaten durch die elektronischen Geräte, die sie überall am Arbeitsplatz mit sich führen müssen ‒ einschließlich der Toilette ‒, ständig in das Programm hochgeladen werden.

Diese KI-gesteuerten Systeme lernen, Strategien zu entwickeln, um ihr programmiertes Ziel zu neutralisieren, egal ob es sich um ein Bündel von Proteinen im Kern eines Keims oder um eine Gruppe von Arbeitern im Pausenraum handelt. In beiden Fällen kategorisiert die KI ihre Ziele in Vektoren, die anschließend verwendet werden, um die Wahrscheinlichkeit zu maximieren, sie zu eliminieren.

Es war unvermeidlich. Die Menschheit hat sich als brillant genug erwiesen, KI-Algorithmen zu entwickeln, die in der Lage sind, die Proteine eines tödlichen Keims vollständig zu entschlüsseln ‒ ohne jegliches menschliches Zutun ‒ und ein wirksames Antibiotikum zu entwickeln. Gab es jemals einen Zweifel daran, dass Konzerne wie Amazon diese Gelegenheit nutzen würden, um Betriebsstätten entlang ihrer Lieferkette zu identifizieren und zu verkleinern, bei denen die KI eine höhere Wahrscheinlichkeit einer gewerkschaftlichen Organisierung vorhersagt?

Ökonomen behaupten ernsthaft, dass die Kräfte von Angebot und Nachfrage zuverlässig dafür sorgen, dass der technologische Wandel uns zugutekommt. Diese Fiktion erlaubt es ihnen, den Blick von dem bösartigen Klassenkampf abzuwenden, der sich vor ihrer Nase abspielt und das Leben von Millionen von Menschen zerstört, während es der Makroökonomie unmöglich gemacht wird (zumindest ohne unhaltbare Verschuldung), genügend Nachfrage nach den Gütern zu erzeugen, die die Technologie produzieren kann.

Warren Buffett, der seinen Erfolg größtenteils dem Ignorieren der Illusionen der Ökonomen verdankt, witzelte, dass Klassenkampf herrscht und seine Klasse ihn eindeutig gewinnt. Das war, bevor algorithmengesteuerte digitale Geräte Vorarbeiter in Betrieben ersetzten und ein Arbeitstempo und ein totales Überwachungsregime diktierten, das die Fabriken in Charlie Chaplins Moderne Zeiten wie ein Arbeiterparadies aussehen lässt. Als ob das nicht schon genug wäre, befähigt KI die Konzerne nun auch noch, die einzige Institution auszulöschen, die Arbeitnehmern in einer Welt, in der sie so gut wie machtlos sind, ein Mindestmaß an Macht verleihen kann: die Gewerkschaften.

Der Klassenkampf, den Buffett bestätigt hat, wird bald in jedem Sektor KI-gestütztes, cloudbasiertes Kapital gegen ein weltweites Prekariat ausspielen, das lediglich die Freiheit besitzt zu verlieren und wieder zu verlieren. Unabhängig von der politischen Ausrichtung oder den eigenen Ambitionen sollte klar sein, dass diese Wirtschaft sowohl unsäglich als auch unhaltbar ist.


Quelle: Yanis Varoufakis, KI kann Keime bekämpfen ‒ und Gewerkschaften. Auf: gegenblende.dgb.de/artikel/++co++bb45e71c-0902-11ee-a3f1-001a4a160123 vom 12. Juni 2023


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